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attamh — Gewissheit,
nicht bloß Möglichkeit

Matta Wagnst im Gespräch mit Johannes Rauchenberger
2015

erschienen in: kunst und kirche
mit dem Titel »Reliqte« ... zum Erbe christlicher Bildwelten heute
Heft 02/2015

 

Was Gewissheit ist, erlernte die Künstlerin Matta Wagnest aus der Erfahrung einer tiefen Krise, der von einem Rückzug, einer »Klausur« begleitet war. Zuvor bestimmte sie in den 1990er Jahren den damals jungen Kunstdiskurs entschieden mit. Gleichzeitig definiert sie »Erlösung« als das entscheidende Lebensthema. Ihre Rückkehr in die Kunst ist fast mit einem prophetischen Anstrich versehen. Liebe, Attamh – nur sie zählen für Matta Wagnest zur Rettung der Welt. 

 

Johannes Rauchenberger: Welches Thema beschäftigt Sie zur Zeit am Meisten?

Matta Wagnest: »Schattengeist«… ich erkenne die rigorose Schwere des »Schattens«, der nichts weiter zu sein scheint als ein Verstellen des Lichts. Dieser Schatten macht weltweit große Probleme, bringt Hochhäuser zum Einstürzen, produziert Selbstmordattentäter und macht auch vor dem Eigenen, dem quasi Privaten, nicht Halt.

 

JR: Wer oder was ist dieser »Schattengeist«?

MW: Es handelt sich um den Schattengeist, der in jedem einzelnen Menschen steckt, aber auch um den Schatten in der Politik, der Wirtschaft, dem Schatten im Grauen der Welt, vom Großen zum Kleinen und vice versa sozusagen. Die Installation ist so angelegt, dass Interessierte eine große schwarze Fläche Spinnaker betreten, mit einem Stab hochheben und betrachten können. Sie haben sich sozusagen für diesen Moment der Teilnahme zum Reflektieren darüber entschieden und lüften auch den eigenen Schatten. Die Form des Objektes verändert sich mit der Anzahl der Rezipienten, d.h. der Prozess einer ständigen Bewegung wird so auch von außen sichtbar gemacht. Mit dieser Arbeit möchte ich darauf hinweisen, dass die Mithilfe jedes Einzelnen wichtig ist, dass jeder Mensch entscheiden kann: Gut oder Böse / Licht oder Schatten, und dass wir so unser Haus, die Welt, bauen.

 

JR: Setzen Sie dabei auch ihren eigenen Körper ein?

MW: Natürlich, denn auch ich bin bereit meinen Schatten zu transzendieren. So spielt der eigene Körper in manchen Projekten quasi als Projektionsfläche eine wesentliche Rolle. Im Projekt »angalien« und bei den Porträtübermalungen trage ich die Arbeit quasi am Körper ab. Das sind bewusst gesetzte Akzente, um einerseits auf die »die Schönheit des Weiblichen« aufmerksam zu machen, andererseits auch um die Gefährlichkeit des Narzissmus zu thematisieren, um auf die Verletzlichkeit aufmerksam zu machen, Missbrauch zur Diskussion zu stellen. Auf allen Ebenen passieren Übergriffe – von der intimsten Atmosphäre zu Hause bis hin zu Pornographie und Pädophilie – ich verweise in diesem Zusammenhang auf eingangs erwähnten »Schattengeist«, auf diesen Wahnsinn, der da passiert, bei der Preisgabe des Körperlichen. Das ist mir deshalb ein so großes Anliegen, weil ich darin eine extreme Form des Rassismus sehe, die unendlich viel Leid auf der ganzen Welt schafft. 

 

JR: … ein dezidiert feministischer Blick?

MW: Ich würde sagen, ein dezidiert menschlicher Blick. Der Körper wird gezeigt, um einen diesbezüglichen Diskurs anzuregen. Schönheit an sich ist nichts Verwerfliches – aber was wird damit gemacht? So wie eine Blume oft gepflückt und rasch wieder weggeworfen wird, so werden Menschen, Kinder, Mädchen, Frauen quasi »gepflückt«, missbraucht und dann achtlos liegengelassen. Das ist sehr traurig und zeigt viel vom Schattengeist in dieser Welt. Im Internet werden z.B. solche Grausamkeiten zugänglich gemacht, d.h. es ist für jedermann möglich, diese »Kammer des Schreckens« (Harry Potter) zu öffnen, der Schattengeist des Einzelnen zeigt sich, entblößt sich und alles was nicht erlöst ist, ist auch nicht gelöst und taucht in verschiedener Gestalt immer wieder auf. Deshalb ist Erlösung auch so ein wichtiges Thema für mich.

 

JR: Erlösung – das ist, gemessen an der Sprache der Kunst, gelinde gesagt ungewöhnlich. Kunstkarrieren lesen sich schon anders. Sie selbst hatten als junge Künstlerin in den 1990-er Jahren einen unglaublichen Erfolg. Es war eine Zeit, als konzeptionelle und institutionskritische Tendenzen prägend waren. Das Tafelbild war damals für tot erklärt worden, Ideen, Konzept und Sprache ersetzten Malerpinsel und Leinwand. Sie waren in dieser Tendenz ganz vorne dabei. 

MW: Die 1990er Jahre waren geprägt von einem kontroversiellen Diskurs. Kuratoren kam dabei eine wichtige Rolle zu, gaben sie doch Themen und Ausrichtung vor. Dieses Kontroversielle lag mir, das liegt mir immer noch. Zudem hatte ich eine sehr große Kraft, weil ich aus einer Entschlossenheit heraus operiert habe, die letztendlich aus dem Ausbrechen einer Enge gekommen ist, die ich vor dieser Zeit erlebt habe. Der Begriff »sofort« wurde in dieser Zeit zu einer Form der Überlebensstrategie und daraus heraus entwickelte sich das Projekt »Calendarium zur Zeit«, das zwölf Plakate mit subjektiven Zeitbegriffen zum Inhalt hatte. Sofort, damals, früher, bald, oft, jetzt, nie, immer, selten, später, einst, zuletzt wurden als Poster Monat für Monat in Szene gesetzt, in den öffentlichen Raum gestellt, plakatiert und waren bei einigen Interessierten bald begehrtes Sammelobjekt. Außer ein paar Eingeweihten wusste keiner, wer hinter dem Projekt steckte. 


JR: Sie waren später Trägerin einschlägiger Kunstpreise, waren Österreich-Vertreterin auf der Istanbul-Biennale, erhielten ein Japanstipendium und waren auch in Venedig vertreten.

MW: 1995 habe ich auf der Biennale in Venedig in einem Gemeinschaftsprojekt mit Gerwald Rockenschaub auf einem Fährschiff gesungen… Thematisch war ich schon immer an der Essenz interessiert, habe mich u.a. auch verstärkt der Musik gewidmet, wie z.B. avantgardistischem Techno.Sound, dadurch habe ich neue Leute und Hypes kennengelernt. Eine für die Kunsthalle.Wien realisierte Arbeit nannte ich »Sitting on a Sofa«, im Vordergrund standen »relaxen & chillen«, also »ausruhen & durchatmen«. Ich habe dies damals ganz bewusst als »Aussage« in die Kunst mit hineingenommen, das war damals eher ein Novum. Diese Aufforderung zur Ruhe habe ich deshalb gewählt, um auf die Wichtigkeit der Reflexion zu verweisen, auf die Wesentlichkeit des eigenen Weges, um nicht auf der Kunst-Autobahn unterzugehen. Im Nachhinein könnte man sagen, dass das bereits Vorboten meines späteren Tuns waren, ging es mir doch schon immer darum, das Unsichtbare etwas sichtbarer zu machen und das noch Unausgesprochene zur Sprache zu bringen, das Unerkannte erkennbarer und das Ungedachte denkbarer. 

 

JR: Immer wieder waren auch Schlafende ein treibendes Moment Ihrer Kunst…

MW: 1994 ermöglichte mir ein Stipendium einen mehrmonatigen Aufenthalt in Japan. Ich lebte dort in einem recht abgelegenen aber schönen traditionellen Bauernhaus inmitten eines Naturschutzgebietes. Auf meinen zahlreichen Reisen durch Japan habe ich immer wieder »schlafende Menschen« beobachtet, in Zügen, Schiffen, U-Bahnen etc. Sie schliefen und zeigten sich dabei so verletzlich. Es war für diese Menschen scheinbar kein Problem, diese Verletzlichkeit offen zur Schau zu stellen, das hat mich sehr berührt. Ich habe diese schlafenden Gesichter in der Ausstellung in Tokio auf kleinen screens gezeigt, habe zudem Tatami-Matten in den Raum gelegt, und bei der Eröffnung die Leute eingeladen, sich dort hinzulegen und auszuruhen. Eine Art »Sound- Glocke« wurde im Raum mit dem bekannten Wiener DJ Lodig aufgebaut, mit ruhiger atmosphärischer, avantgardistischer Technomusik. Titel dieser Show war »watched while sleeping«. Nach etwa sieben Stunden war dieser Event vorbei, die Tatamis wurden zu einem Objekt gestapelt, die Ausstellung war eröffnet. Ein kleines Team vom ORF war mit dabei und so wurde in der österreichischen Hauptnachrichtensendung ZIB 1 dazu ein Beitrag gebracht, anmoderiert vom damaligen ZIB.anchorman Robert Hochner.

 

JR: Wie und wann kam es dann zum Bruch?

MW: Zwei Jahre später, nachdem ich in New York »das Labor« gemeinsam mit Gerwald Rockenschaub installiert hatte, bekam ich von der Secession eine Personale angeboten und habe abgelehnt. Von einem falschen Leben ausgepowert war ich so zerbrechlich, dass ich zurückweichen musste, weil ich sonst daran wohl zugrunde gegangen wäre. Es ist mir wichtig gewesen, den Mut zum Eigenen zu haben. Was bedeutet Erfolg? Was ist Karriere? Diese Fragen begann ich mir ganz bewusst zu stellen und kam zu dem Schluss, das nicht von außen beurteilen zu lassen, sondern nur selbst definieren zu können. Deshalb habe ich quasi »on the top of my success« aufgehört, weil ich gemerkt habe, dass das für mich in eine falsche Richtung geht, in Richtung Autobahn sozusagen, da wo du gezogen, geflogen, getragen etc. wirst, Dich aber selbst nicht mehr bewegst, und da, wo du dich selber bewegst, bist du quasi ein Störfaktor für den Betrieb. 

Ich erinnere mich, mit 17 Jahren Hermann Hesse gelesen zu haben, dabei geht es auch um diese Suche nach dem Eigenen und mir wurde bereits damals bewusst, dass Erfolg bedeutet, den eigenen Weg zu suchen, zu finden und zu gehen. Das ist für mich letztendlich Wahrheit. Wenn man dann auch noch ankommt und auf diesem Weg Momente der Erkenntnis hat, ist das der Beweis dafür, dass es das Richtige ist. Dabei ist es wesentlich, Differenzierungsvermögen zu erlangen, liegt doch in der Kraft der Unterscheidung ein essentieller Teil der Aussage. Das Wesentliche liegt im Verborgenen, es zu erkunden ist mühsam und schmerzhaft, dennoch lohnt es sich. Ich hatte in Japan eine Vision, kurze Zeit davor auch in Graz und ich habe erst kürzlich an diese Momente gedacht, wo sich mir Erkenntnis regelrecht gezeigt hat. Das sind so die Stützpfeiler des Hauses, das man sich baut, in dem man wohnt und sich bewegt, in dem man wieder gesund wird und weiterlebt. Mir wurden viele Zusammenhänge klar, das ist letztlich das Interessante. Auf meinem Weg des Suchens habe ich viel erlebt, das Erleben zehrt, verzehrt. Aber wenn man all das Geschehene richtig einordnen und reflektieren kann und man auch in der Lage ist, Fehler demütig zu erkennen … wenn man es also schafft, sich selbst zu verzeihen und auch anderen Fehler zu verzeihen … dann kann man weitermachen, denn dann bleibt man durchlässig für das Wesentliche – für die Liebe letztendlich. Wenn man nicht verzeihen kann, wird man sich immer am selben Punkt verschließen. Ich glaube, dass mein zentrales Thema die Liebe ist … und die Erlösung … und wie das insgesamt und global betrachtet zu einer Lösung führen könnte. Bezogen auf das Transzendentale heißt das: wenn wir sterben, lassen wir die Bande des Materiellen und Irdischen los und werden letztendlich in eine von der Liebe getragene Geistigkeit entlassen. 

 

JR: Können Sie jetzt rückblickend sagen, dass Aussteigen als ein Sich-treu-Bleiben produktiv sein kann, oder wird nach einer Rückkehr die Eintrittskarte in die Szene entzogen?

MW: Ich habe das Feld der Kunst ja nie ganz verlassen, sondern mich einfach zurückgezogen, um bessere Kunst zu machen. In dieser Zurückgezogenheit habe ich Kunst als universale Sprache erkannt, es gibt sie seit es Menschen gibt. Die Möglichkeiten eines Mitteilens werden dadurch größer und Erkenntnisse lassen sich nicht nur in Worte fassen. Wenn wir die Kunst in diesem Sinne ernst nehmen können wir daraus unseren Nutzen ziehen … im Sinne einer tiefen Verbundenheit mit dem Archaischen, dem Wesen des Seins. Zudem werden wir beflügelt, die uns allen innewohnende Kreativität bei all unserem Tun zu gebrauchen. So geht sie aus uns hervor und uns voran … Letztendlich wusste ich schon damals, als ich 1996 ausgestiegen bin, dass ich in etwa 20 Jahren zurückkehren werde mit einer ganz anderen Kraft, mit einer ganz anderen Erfahrung, Erkenntnis, Einstellung und mit einer dezidiert klaren Aussage.

 

JR: Eine derartige Aussage beanspruchen Sie im sechs-teiligen Schöpfungszyklus »soplo«.

MW: Während des Arbeitens am Gemäldezyklus »soplo« war ich in einem erhobenen Bewusstsein, ich tat, was getan werden musste. Das begann schon bei der Auswahl der Farben, die »mich gewählt haben« und nicht ich sie. So stand ich nun vor sechs weißen Leinwänden und hatte keinerlei Vorstellung davon, was nun im Begriff war zu entstehen, ich bewegte mich quasi »intentionslos« auf die Leinwand zu. Im Laufe von mehreren Wochen entstand so dieser Zyklus, den ich im Nachhinein als Schöpfungszyklus erkannt habe. Es geht dabei um die Materialisation und Manifestation der Materie aus dem Geist heraus. Dem noch nicht körperlich Manifestierten ist bereits eine Form immanent, denn das Materielle beinhaltet Information, die sich in der Materialisation fortschreibt und allen Erscheinungen zugrunde liegt. Sie impliziert also wesentliche Bestandteile der Formation wie auch die Erhaltung dieser. Instinkt, Intuition, ja letztendlich sämtliche Funktionen des Gehirns, der Organe, Abläufe den gesamten Körper betreffend basieren auf diesen Grundinformationen. Die DNA ist ein Teil dieses Informationsstrangs. Ein Hinterfragen dient letztlich primär dem Erinnern, denn so vieles, das ein gutes Leben ermöglichen würde, ist in Vergessenheit geraten. Zu jeder Zeit gab es Menschen, deren Wissensstand höher entwickelt war als der der meisten anderen. Diese Menschen haben ein geistiges Erbe hinterlassen, auf dem es aufzubauen gilt, das uns Mut und Bestätigung geben soll, das Wesen des Seins wiederzuerkennen … Wenn einer sagt, es gibt die Wahrheit nicht, dann hat er sie nur nicht erkannt, und ebenso verhält es sich mit Adorno wenn er sagt, es gibt »kein richtiges Leben im falschen«. Die Wahrheit ist stark weil sie wahr ist. 

 

JR: Woher nehmen Sie diese Erkenntnis – aus Visionen? Oder stützen Sie sich dabei auf Erfahrungen? Oder sind es Traditionen? 

MW: Der wichtigste Teil des Erkennens ist die persönliche Erfahrung z.B. im Brechen von Gewohnheiten, im Hinterfragen des Bekannten. Die bereits angedeuteten Visionen waren eine extreme Form geistiger Durchdringung, die von mir sehr bewusst erlebt wurden und die eine Bestätigung dessen waren, was ich bereits erahnt hatte. Zudem waren sie wegweisend für meine Zukunft und all das, was ich noch erkennen sollte. In Japan hat mich bei vollem Bewusstsein ein unglaublich hell strahlendes Licht aus allen Gedanken und Arbeiten gerissen. Dieses Licht war erfüllt von Liebe und es hat mir bestätigt, dass es die Liebe gibt … diese Liebe hat sich unabhängig und losgelöst von irdischem Leid gezeigt, es war eine geistige Liebe, die sich mir offenbart hat und ich würde es als Schöpferkraft bezeichnen … und noch immer erzittere ich, wenn ich daran denke … weil dies auch mit der Entstehung des Lebens zu tun hat, mit der Materialisierung des Geistigen sozusagen, das ist einfach grenzgenial … und lässt wissenschaftliches Erkennen weit hinter sich! Aufgrund dieser Erkenntnisse war es mir Jahre später möglich den Gemäldezyklus »soplo« zu realisieren.

 

JR: Sie haben jetzt viel über Ihren Werdegang im Scheinwerferlicht des Erfolgs erzählt und ihrer Suche, den Weg nach Innen zu finden. Wie stehen Sie heute – mit einer Distanz aus 20 Jahren – bestimmten, für Sie relevanten Institutionen gegenüber? Fühlen Sie sich stärker im Verhältnis zum Anderen? Welche Rolle spielen dabei – eingetaucht in die Metafragen des Lebens – die großen Weltanschauungen und wie manifestieren sich Philosophie, Tradition und Religion in Ihrer Arbeit? Aufgewachsen in der Weststeiermark ist Ihre Entwicklung sicherlich auch von der dort gelebten Tradition geprägt. Wie ist das Verhältnis dazu? 

MW: Tradition sehe ich als »große Gewohnheit«, die das Reflexive im Allgemeinen nicht unbedingt fördert.

 

JR: … man tut etwas, ohne darüber nachzudenken, warum man es eigentlich tut … 

MW: … ja, das ist das Negative an der Tradition. Es gibt aber auch positive Elemente im Traditionellen wie z.B. ein gewisses Haltfinden darin, eine gewisse Geborgenheit wahrnehmen, wenngleich gerade diese eben auch ein Trugbild sein kann, uns in eine Enge manövrieren kann! Wenn wir beginnen, uns Gedanken über Hintergründe einer Tradition zu machen, wenn also der reflexive Prozess eingeleitet wird, und wenn wir in der Lage zu einem differenzierten Output sind, dann macht Tradition für mich Sinn. Im traditionellen Tun zeigen sich mir noch heute Teile der Kindheit, eine Erinnerungsbrücke wird hergestellt, weitere Antworten können daraus hervorgehen, wenn man vorbereitet ist für diese Lösungen. Traditionen ermöglichen auch ein tieferes Eindringen in gewisse Thembenbereiche, weil man sich aufgrund ihres Bestehens auch fragen kann: Warum gibt es Sie? Was bedeuten Sie für mich persönlich? Wo sind sie starr geworden? Wie kann man sie adaptieren und erneut zugänglich machen? Wenn Menschen allerdings hauptsächlich an der Form der Tradition festhalten und sich nicht mehr mit dem Inhalt beschäftigen, dann wird es eher hohl und eng, weil die tatsächlichen Fragestellungen außen vor bleiben und alles erstarrt. Ich war ein neugieriges, aufgewecktes Kind, und manchmal habe ich mich gefragt, wie ich überhaupt in diese Familie gekommen bin und in die Weststeiermark. Ich sehe mich als Kosmopolitin, aber auch Kosmopoliten werden irgendwo geboren, und so bin ich in die Weststeiermark hineingeboren und eben dort aufgewachsen. Ich habe eine Menge schmerzhafter Erfahrungen gemacht und bin mit meinen Fragen oft allein geblieben. Eine unheilvolle Mischung aus Angst und Schmerz begann mich zu umklammern. Mittlerweile weiß ich, dass es immer die Angst ist, die Türen des Erkennens verschließt.

 

JR: Sie hatten zu Ostern 2014 die Möglichkeit, für ein relativ großes Zeitungspublikum die zentrale Botschaft von Ostern visuell umzusetzen. Wie gingen Sie an diesen Auftrag heran? 

MW: Aus christlicher Tradition und Erziehung kommend beschäftigt mich die Frage der Erlösung schon seit der Kindheit und ich habe dafür eigene Gebetsrituale erfunden. 

 

JR: … aus sich heraus? Hat Sie da jemand oder etwas unterstützt?

MW: Nun, natürlich sind wir sonntags in die Kirche gegangen, das könnte man als Klammer sehen, aber ich habe in diesem Gebäude immer eine ganz besondere Geborgenheit gefühlt, die ich nirgendwo sonst gefühlt habe. Es war das Zusammenspiel der geistigen Kräfte, das mir als Kind unter die Haut gegangen ist. Die Kreuzigung, die ich bei diesem Projekt als Teilung des Titelblattes gezeigt habe, war ja auch ein visuelles Durchschneiden des Papiers im Sinne des Loslösens, des Analysierens. Auf dem so durch Trennlinien entstandenen Kreuz war der Begriff »quer« zu lesen, letztendlich um den Menschen Mut zu machen, quer zu denken, quer zu gehen, Fragen zu stellen, den eigenen Weg zu finden, Traditionen zu hinterfragen und zu verstehen, um ein neues Erleben zu ermöglichen.

 

JR: Der Begriff »quer« stand also am Titelblatt der Zeitung am Karfreitag?

MW: Ja, und am Karsamstag war es dieses »still«, das besagt, wenn man eben quer geht und quer denkt und Mut hat, quer zu leben, dass man dann eine Stille in sich finden wird – als Bestätigung und Belohnung sozusagen – in der man sich als Teil der Schöpfung erfährt, ausgestattet mit einer ganz besonderen Kraft. Diese Kraft möchte sich in jedem Leben zeigen, und sie ist immer konnotiert mit der Liebe. Wenn man sich mutig entschließt quer zu gehen, wird man Dinge unweigerlich erkennen, wird man immer wieder hin und her fegen zwischen »fragen – erkennen – fragen – aufgewühlt sein – zur Ruhe kommen« usw. Das bekommt mit der Zeit etwas Permanentes, ist wie Atmen, das sind Impulse, durch die, wenn man durchlässig wird für das Wesentliche, für die Liebe, man immer in »stiller Bewegung« sein wird. Das ist reflektierte Lebensenergie und es erzeugt Lebendigkeit. Bei dieser Art von Durchlässigkeit darf man keine Angst haben, weil diese Vorgangsweise einen immer wieder auch in das noch Unbekannte führt. Die Angst verhindert den nächsten Schritt. So gehört auch eine gewisse Unerschrockenheit zur Durchlässigkeit und zum Quergehen. 

 

JR: Gehört Quergehen für Sie zu dieser religiösen Praxis?

MW: Wenn man ein Wanderer ist – metaphorisch gesehen würde ich mich als »Denkwanderer« bezeichnen – dann beschreitet man manchmal auch gefährliche Wege, man kommt an Punkte, wo man vorerst glaubt, hier geht es nicht mehr weiter und wenn man kein geschulter Wanderer ist, dann kehrt man womöglich rasch um. Ist man aber ein Wanderer, der sich vorgenommen hat, diesen Weg zu gehen und gibt es ein Licht, ein hoffnungsvolles Zeichen, dass man da gut hinüberkommt, dann wird man das auch schaffen. Ein einschneidendes Erlebnis war diese Erfahrung des Durchbrechens, und da kommen wir dann auch zur dritten Titelseite, die ich voriges Jahr für den Ostersonntag mit dem Begriff »durch« gestaltet habe. 

 

JR: Was meint dieses Durchbrechen existenziell?

MW: 1997 war ich bereits in Klausur und die Türen hin nach außen waren längst zugemacht. Drei Jahre lang habe ich sehr zurückgezogen gelebt und begonnen, Denk- und Lebensgewohnheiten zu ändern. Den Kontakt zur Außenwelt habe ich auf ein Minimum beschränkt, ich habe kaum telefoniert oder Leute getroffen, habe viel gezeichnet und zu malen begonnen. Im Verlauf dieser Zeit hatte ich ein eindringliches Erlebnis, wo ich ganz bewusst losgelassen habe vom Narzissmus, den ich als eine Art Angst vor der Liebe entlarvt habe – und das ist mir blitzartig in einem ganz bestimmten Moment klar geworden. Da habe ich mir die Frage gestellt: »Wenn ich das loslasse, was bleibt dann von mir übrig?« Und meine Antwort darauf war: »Und wenn es nichts ist, ist es besser als das, was ist.« Und so habe ich losgelassen … und ich habe mich entsetzlich nackt gefühlt aber auch sehr »lebendig«. Mir war bewusst, dass ich mich in diesem Moment selbst hervorgebracht habe und ich fühlte mich wie neu geboren, bin wie Phönix aus der Asche gestiegen. Wenn man so etwas einmal erlebt hat, so ein Durchbrechen, wenn man quasi wie das Kamel durchs Nadelöhr gegangen ist, hat man sich einen neuen Zugang zur Welt erschlossen. Von diesem neuen Bewusstsein lässt man sich nun leiten und man kann sich natürlich auch erklären, warum die Vergangenheit so war und die Gegenwart so ist und die Zukunft sich aus dieser Gegenwart heraus definieren wird. Das war und ist sehr spannend!

 

 JR: Die biografische Prägung ihrer Kindheit war katholisch. Üblicherweise findet gerade ein Abstrampeln statt. Sie nennen es aber nicht Enge, sondern Geborgenheit. In einer frühen Arbeit im Kulturzentrum bei den Minoriten (1996) ließen sie Gesänge ihrer Kindheit von Eltern, Cousinen und einer Tante wieder erklingen. Ganz generell: Sind diese Bildwelten vollkommen vergangen? Wie sieht für Sie eine Auseinandersetzung damit aus – schließlich haben Sie merkwürdig viel gemeinsame inhaltliche Schnittflächen… 

MW: Es geht für mich um ein Erinnern an das Wesentliche, da befinden sich vielleicht auch die Schnittpunkte und -flächen, denn das Wesen ist in seinem Ursprung zu allen Zeiten gleich. Der Manifestation durch das Wort kommt große Bedeutung zu, aber auch Fragen nach Raum und Zeit werden gestellt und letztendlich die Materialisation mittels des Partikels, des Atoms. Diese Themen gibt es seit es Menschen gibt, und deshalb werden diese Bildwelten auch nicht vergehen. Vergleichen wir Darstellungen der Höhlenmalerei mit denen der Sixtinischen Kapelle so sind die Unterschiede nicht so groß wie wir vielleicht vorschnell meinen. In beiden Fällen geht es um das Darstellbare und um das unmittelbare Umfeld, in dem es entstanden ist. In dem Zusammenhang beschäftigt mich auch die Frage: Was ist überhaupt darstellbar? Als ich an den Porträtübermalungen arbeitete stand diese Frage stark im Vordergrund. Und wenn ich an die Neugier denke, die viele Menschen zur Schau stellen, wenn es darum geht, das Bildnis Christi zu visualisieren, dann zeigt sich mehr denn je, die Aktualität dieser Frage. Eigentlich sollte es doch weniger um das Äußere der Christusfigur gehen als viel mehr um das Innere, um das Christusbewusstsein. Die christliche Ikonografie stützt sich vornehmlich auf das Leiden Christi, das Kreuz, das schmerzerfüllte Gesicht, den geschundenen Körper, doch das Wesen Christi ist damit nicht erfasst. Christus ist auferstanden, hat sich über das Leiden erhoben und ist in den Geist zurückgekehrt, er leidet nicht. Vielmehr hat er uns durch sein Leben gezeigt, dass es möglich ist, sich vom Leiden zu erheben, das ist wohl mit Auferstehung gemeint.

 

JR: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Ihrer Erkenntnis und der daraus gewonnen Kraft und einer Botschaft, die Sie vermitteln möchten? Immerhin beschäftigen sich Ihre Arbeiten mit den großen Fragen des Lebens, das sind keine persönlichen narzisstischen Kleinigkeiten. Wie also ist Ihr Verhältnis zur Welt?

MW: Wie schon gesagt war ich immer an essenziellen Themen interessiert, jedoch solange ich im Narzissmus gefangen war, konnte ich keine sinnvollen Antworten finden. Ich verstrickte mich mehr und mehr in einem Netz aus Halbwahrheit und Applaus und musste zu Reflexion und Analyse übergehen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. In sämtlichen Arbeiten aus den 1990ern findet sich ansatzweise und versteckt bereits der Hinweis auf das Interesse am Wesentlichen, d.h. ich kann diese Themen und Arbeiten aus der alten Welt in die neue Welt mitnehmen und mich fallweise darauf beziehen, denn was essenziell ist, bleibt auch weiterhin bestehen. Wenn ich daran denke wie sich Philosophen teilweise abquälen mit diesen essenziellen Themen, und wie um den heißen Brei herum geredet wird – und so verhält es sich mit allem, das bloß aus der Theorie heraus geschaffen wird – dann weiß ich, dass ich denen etwas voraus habe, nämlich die Erfahrung des Erkennens. 

 

JR: Immanuel Kant hat immerhin das Transzendentale als Möglichkeit in den Raum gestellt…

MW: Immer wenn ich in der “Kritik der reinen Vernunft“ lese, spüre ich Kants Angst vor der Grenzüberschreitung, spüre ich seinen Kampf mit dem Zweifel, , Er stellt das Transzendentale nicht als Gewissheit dar weil er es nicht erkannt zu Lebzeiten nicht erkannt hat. Vielleicht hat er im Angesicht des Todes das Überschreiten dieser Grenze hin zur Liebe erfahren und konnte so doch noch glücklich sterben. So beschäftigt die Liebe die Welt, und wenn ich von der Liebe spreche, meine ich eine schöpferische Liebe, eine geistige Liebe. Dieses Wort »Liebe« ist ein gutes Beispiel dafür, wie rasch wir an die Grenze des Wortes gelangen, weil es sich hierbei auch um einen sehr abgetragenen, sehr kommerzialisierten Begriff handelt.So habe ich ein eigenes Wort für diese von mir erkannte wundersame Liebe eingeführt – attamh – und so signiere ich in den letzten Jahren auch meine Arbeiten. 

 

JR: … das sind die Buchstaben ihres Vornamens rückwärts gelesen?

MW: … einerseits das, zudem füge ich aber auch ein »h« an, um den Begriff »chanten« zu können, ihn quasi im Kreis zu singen, zu beten.

 

JR: Wie kam es dazu?

MW: Ich habe dieses Wort eingeführt, um klarzustellen, dass ich mich nicht am Betrug der Welt beteilige. Ich lasse mir keine Liebe verkaufen oder anbieten, die keine Liebe ist. Ich lasse mir auch keinen Gott verkaufen oder anbieten, der kein Gott ist. Wo Gott und die Liebe in den Handel kommen, da beginnen sie sich aufzulösen. Das wissen Sie wahrscheinlich auf Ihre Weise, und ich weiß es eben auf meine. Mit diesem Wissen bin ich bereit, mich wieder zu öffnen, mich wieder zu zeigen, zu reden, bin ich bereit, meine Erkenntnis mit den Menschen, die dafür ein offenes Ohr, ein offenes Auge, ein offenes Herz haben, zu teilen. Die Welt liegt mir am Herzen, und Wahrheit ist nicht nur ein Wort. Wahre Liebende müssen sehr großzügig sein! 

 

JR: Inwiefern?

MW: Nun, man muss in der Lage sein, das Wesentliche zu erkennen und zu leben und immer wieder das Verzeihen einfließen lassen, im Sinne von »Denn sie wissen nicht, was sie tun!« In dieser Aussage wird die Unwissenheit als Mangel an Bewusstsein definiert. Die Klausur ist eine wichtige Zäsur im Leben des Erkennenden. Wenn man z.B. krank ist, dann sehe ich das auch als Möglichkeit zur Klausur. In dieser besonderen Zeit hat der Mensch auch die Möglichkeit, eine andere Ebene in sich zu erfahren, Türen können sich öffnen, neue Wege sich zeigen. Dieser andere Zustand ermöglicht einen Zugang zum Bewusstsein, wenn man nicht nur Angst davor hat, krank zu sein. So gesehen bietet Krankheit auch neue Möglichkeiten …

 

JR: Wie definiert sich für Sie Erfolg?

MW: Ich sehe Erfolg als das Ergebnis einer Art Zusammenspiel verschiedener Kräfte. Da gibt es z.B. den aufoktroyierten Erfolg, das ist der, an dem viele ein Interesse haben, weil er sich gut vermarkten lässt und so auch als Bestätigung derer, die ihn anfachen und zum Lodern bringen, genutzt wird. Das ist ein »closed circuit« und macht nur Sinn für diejenigen, die sich gern im Kreis drehen. Dann gibt es einen lebendigen Erfolg, der etwas über die Sache hinaus Sinnvolles geschehen lässt. Landläufig wird Karriere mit Erfolg in einem Atemzug genannt, aber ist das auch wirklich so?

Wenn sich ein Mensch zurückzieht, kann auch sehr viel erfolgen, nur das sieht kaum jemand, das wird nicht groß auf die Titelseiten gebracht. So erachte ich es als Erfolg, als etwas ganz Wesentliches, dass es Menschen gibt, die z.B. in ein Ordensleben eingebunden sind, sich dem Gebet, der geistigen Hingabe widmen, die inniglich mit der Liebe verbunden sind. Natürlich muss uns auch hier klar sein, dass es von jedem Einzelnen abhängt, wie unerschrocken er ist, um der Liebe wahrlich zu begegnen. 

 

JR: Was ist für Sie das Wesentliche an der Liebe?

MW: Wir sollten danach trachten Großmut des Herzens zu erlangen und die Fesseln sprengen, die uns daran hindern. Hass, Schuldgefühl, Kummer, Verachtung, Furcht, Rassenvorurteil, Ahnenstolz und Geltungsbedürfnis dürfen uns nicht länger in geistiger Knechtschaft halten, dann sind wir in der Lage das Wesen der Liebe zu erkennen.

 

JR: Danke für das Gespräch.

Ich danke Ihnen!