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Der Schmerzkörper als soziale Größe

Edith Risse

 

In der christlichen Ikonographie der Passion ist die Darstellung des Schmerzes ein zentrales Thema. Kreuzigungen in der byzantinischen Kunst um die Wende des 8. zum 9. Jahrhundert zeigen Christus in sich zusammengesunken am Kreuz hängend, das Haupt auf die Schulter geneigt, aus seiner Seite rinnt Blut und Wasser. Besonders drastisch demonstrieren Schmerzensmänner das Leiden Christi: ein blutrünstiges Motiv, das seine Ursprünge im 12. Jahrhundert ebenfalls in Byzanz hat. Berühmte spätere Beispiele stammen von Albrecht Dürer, Rueland Fruehauf dem Älteren und Andrea Mantegna. Die Augen des Gemarterten sind blutunterlaufen und blicken die Betrachter_innen direkt an – fragend und voller Leid. Jesus wird hier nicht als über den Tod triumphierender Herrscher, sondern als leidender Mensch präsentiert.

Die Schmerzäußerung auf Bildern kann sehr verschiedenartig sein. Manche Dargestellte leiden still und resigniert oder leiden ergeben in der Gewissheit zukünftiger Gnaden, andere schreien ihren Schmerz laut und mit aller Vehemenz heraus. Ein Charakteristikum des Schmerzes ist seine Unfassbarkeit, die ihn in seiner Wesenheit ausmacht und für den Leidenden so besonders belastend ist. Vielleicht finden sich in der bildenden Kunst auch deshalb so häufig Darstellungen des menschlichen Schreis, wobei das bekannteste Vorbild von Edvard Munch stammt. Matta Wagnest stellt einen »Schattengeist« in die Mitte des Ausstellungsraums und lässt die Rezipient_innen über darin befestigte Kopfhörer am Schmerzensschrei teilnehmen. Der Schrei ist lauthals und ungehemmt, überbordend und grenzüberschreitend. Der Schrei ist im »Jetzt«.

Friedrich Nietzsche meinte einst: »Nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis«. Beispiele dafür sind die Performances der 1970er und 1980er Jahre, in denen sich Künstler_innen absichtlich verletzten, in denen reales Blut floss, als Kampfansage gegen das Establishment. Der Tabubruch ist essenziell: Performer_innen wie Marina Abramovic, Peter Weibel, Denis Oppenheim, Timm Ulrichs und Chris Burden setzten sich in einigen ihrer Arbeiten sogar potenziell tödlichen Risiken aus.

Auch die Wiener Aktionisten sprengten die Grenzen der autonomen Werkkunst und führten sie »als Teil ihres Lebens« vor, um ein deutliches Zeichen gegen die repressiven gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit zu setzen. Bei Rudolf Schwarzkogler haben die eigenen hohen Ansprüche an die Kunst und an sich selbst ihre ganz besonderen Spuren hinterlassen. Alle seine künstlerischen Äußerungen sind von einem ausgeprägten Willen getragen, als eine Art und Weise, das Leben zu meistern, in der möglichst höchsten Form als Mensch zu existieren. So wurden Aktionen und Bildinszenierungen gemacht, die als Fotoserien ihre Spuren in die zeitgenössische Kunstgeschichte gezogen haben. Anni Brus spielte dabei eine wichtige Rolle und verkörperte beispielsweise die »Braut« in seiner Aktion »Hochzeit«.

Schwarzkoglers Leitlinie war dem »appolinischen Prinzip« verpflichtet. Hermann Nitsch meinte über Rudolf Schwarzkogler einst: »Der Lichtgott galt für ihn als das Prinzip strenger Lebensbewältigung und heiterer Bändigung alles Triebhaften. Der Lebensprozess sollte zur Kunst erhoben werden und sich in den Bahnen der Form abspielen, sodass Kunst als höchster Ausdruck der Natur gesehen werden konnte.« 

Für Günter Brus war es von Anfang an wesentlich, den eigenen Körper ins Zentrum der Aktion zu stellen, die als Weiterentwicklung der informellen Malerei zu sehen ist. Drastisches Beispiel ist die letzte und radikalste Performance von Günter Brus, Zerreißprobe, aufgeführt im Jahr 1970 im Aktionsraum München. Gewalt und Leidenschaft, Entgrenzung und Albtraum, Stillstand und hyperaktive Körperchoreografie gehen ineinander über und zeigen sich als außerordentliches Schauspiel der Körperkunst, von dem nur noch ein Filmdokument existiert. Dabei spielte die Reaktion auf die christliche Opfertradition, wie generell im Wiener Aktionismus, eine zentrale Rolle.

 
bleeding

Dem Ritual der reinigenden, der Katharsis dienenden Opferblutung, wie sie im männlich dominierten Aktionismus entwickelt wurde, stellte VALIE EXPORT ab Mitte der 1960er eine feministische Variante entgegen: die Sichtbarmachung der Menstruationsblutung, ein Tabuthema in fast allen patriarchalischen Gesellschaften nicht erst seit der Antike. In allen drei großen Weltreligionen, der jüdisch-christlichen, der muslimischen und der hinduistischen, wurden (und werden) menstruierende Frauen als »unrein« stigmatisiert, mit Absonderungsritualen belegt und männlicher Kontrolle unterworfen.

Blut, sagt Matta Wagnest, ist Ausdruck eines »existenziellen Prozesses« und ist in allen unseren Organen. Ohne Blut gibt es kein menschliches Leben – und Blut hat bei allen Menschen auf der ganzen Welt dieselbe Farbe. So gehe es auch darum, dieses Gleiche zu hinterfragen, zu betrachten, um sinnvolle Lösungen für die Welt zu finden. Blut stellt für die Künstlerin somit ein Transportmittel der Liebe dar, der Lebendigkeit und nicht des Hasses, der Engstirnigkeit und der Starre. Der Abdruck, den Matta Wagnest in der Performance print hinterlässt, ist statisch, ist Form, ist Kokon, ist Schablone … 


we are the art

Für Matta Wagnest sind Leben und Kunst, Schmerz und Blut eng miteinander verwoben. Sie durchwandert ihren seelischen Schmerz, »trägt ihn am eigenen Körper ab« und bringt das Resultat dieses Prozesses in die Kunst ein. Mittels Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen werden jene Schichten des Schmerzes freigesetzt, die anderswo keine Sprache erhalten, so hält sie den Schmerz wach und macht ihn erkennbar. Wie die Werke von Rudolf Schwarzkogler soll ihre Kunst dazu beitragen den Kreislauf des Lebens zu meistern, in der möglichst höchsten Form als Mensch zu existieren. In weiterer Folge möchte Matta Wagnest viele Menschen dazu bewegen, sie auf diesem Weg zu begleiten, um die globalen Probleme unserer Zeit besser zu erkennen und lösen zu können. Sie spricht vom Schmerz »als sozialer Größe«. Wie bei Günter Brus ist es Matta Wagnest immer wieder auch wichtig, den eigenen Körper ins Zentrum der Aktion zu stellen, um damit auch »Malerei« erweitert zu definieren und um nach wie vor herrschende Tabus zu brechen. Im Gegensatz zu Brus nutzt die Künstlerin ihren Körper allerdings nicht als Trägermaterial des malerischen Prozesses, neigt nicht zur Selbstverstümmelung und will die Gesellschaft weder provozieren noch verstören. Im Sinne ihres Slogans »we are the art« möchte Wagnest vielmehr auf Gemeinsamkeiten in der Aufgabenstellung »Leben« hinweisen und Mut zum kreativen Sein machen.

Matta Wagnest wurde in den 1990ern als »shooting.star« der Kunstszene gehandelt bis sie mitten im Höhenflug beschloss, ihre Ausstellungstätigkeit einzustellen, um sich in Klausur zu begeben. Neue Themen standen im Vordergrund. Nach drei Jahren zeigte sie in steirischer herbst 99 ihre ersten Porträtübermalungen, die »das Abtragen des Schmerzes« in den Mittelpunkt stellten. Im Rahmen dieser Personale bei Ralph & Petra Schilcher wurde auch die erste »glass.construction« mit dem Titel orange.glasshouse präsentiert. Mittlerweile gibt es fünf Skulpturen dieser Art in Österreich, eine davon in den Kristallwelten Swarovski. Als kommunikative Brücken zwischen Körper, Geist und Seele stehen diese Arbeiten Pate für Wagnests europäisches Großprojekt Skulptur.Europa, das in sämtlichen EU-Nationen verhandelt werden soll. Die Werke stehen in einer großräumigen Interdependenz zueinander und stellen auf der Architekturbiennale in Venedig die Frage: »what is your fear about?« Dieses so geschaffene »Interaktionsfeld« beschäftigt sich im Wesentlichen mit dem Schmerzkörper und mit der Frage nach einer »idealen Vorgangsweise« im Sinne einer Lösung. Auch in ihrer Performance print geht Matta Wagnest dieser Frage nach. Dabei geht es um die »Loslösung vom Schmerzkörper« um einer Identifikation mit ihm zu entgehen.

Der Abdruck bleibt als zeichenhaftes Objekt zurück. 


print 

Matta Wagnest stellt den Schmerz nicht demonstrativ und plakativ zur Schau, sondern arbeitet ihn mit künstlerischen Mitteln ab. Sie meint: »Unsere Kindheit ist voller Erinnerungen und Ablagerungen, hinterlässt Spuren und Abdrücke und bringt uns in eine ‘gewisse Lage’«. Diese erste Sicht ist unser »Tor zur Welt« - wir stehen somit alle »in einem bestimmten Verhältnis zueinander« – und dieses »Verhältnis« gerät in Bewegung und stellt dabei neue Abläufe her. Im Lauf unserer Entwicklung, unserer Reifung, unserer Entpuppung lernen wir auch, uns abzugrenzen, nehmen »unsere eigene Bewegung auf« und setzen so »unser Leben in Gang«. Dabei stoßen wir immer wieder an Grenzen, ecken an, geraten in Sackgassen und müssen unseren »Abdruck« neu überprüfen, analysieren, bereit sein, ihn aufzubrechen, um alten Mustern auszuweichen und neue Bewegungsstrukturen zu erlernen. Gewohnheiten werden unter die Lupe genommen und neu bewertet, die Spreu wird vom Weizen getrennt! Wenn wir bereit sind, diese »Abdrücke« loszulassen begeben wir uns in eine neue Form von Bewegung und »Lebendigkeit« stellt sich ein!

Die Familie prägt als frühes Bezugssystem »das erste Weltbild« eines Kindes. Im Laufe seines Lebens löst sich der Mensch bestenfalls aus diesem determinierenden »Abdruck«, dieser Schablone, um sich in Bewegung zu setzen, um sich zu »ent.wickeln« und zu »ent.puppen«, um selbst lebendig zu werden. Die »Abdrücke« müssen dabei zurückgelassen und als Folgen von innerem und äußerem Druck verstanden werden, der körperlichen Schmerz erzeugt. Erst nach dieser notwendigen Erkenntnis hört das Bluten auf, dann ist ein Neubeginn möglich. Wird aber dieser Schritt nicht gesetzt, hört die Wunde nicht auf zu bluten, dann stirbt der Mensch »vor seiner Zeit«.

Die Erfahrung des Schmerzes ist gesellschaftlich tabuisiert, meint Matta Wagnest. Dies führt zu Verhärtung und verleitet zu Strategien der Kompensation und in weiterer Folge zu Hass und Grausamkeit. Der größte Fehler besteht darin, die Schmerz-Erfahrung als das Problem des Einzelnen abzutun, ist sie doch vielmehr auch eine »solidarische Erfahrung«, an der die Gesellschaft insgesamt lernen und wachsen könnte. Laut Matta Wagnest werden »am Körper des Einzelnen auch die Probleme der Zeit abgetragen.« 

Schmerz ist die stärkste Emotion, die ein Mensch empfinden kann. Diese Empfindung bringt den Menschen an die Grenzen bis hin zur Auflösung. Je mehr Verweigerung dem Schmerz entgegengebracht wird, umso intensiver zeigt er sich. Als »Schattengeist« verfolgt er den Menschen so lange, bis dieser sich ihm widmet, sich ihm zuwendet und ihn annimmt, ihn »durchwandert«. Tut er das nicht, werden Kompensationsmechanismen den Menschen dominieren – das Verlangen nach Geld, Macht und Ruhm steht dann im Vordergrund – dies ist die Geburtsstunde der Grausamkeit.


amo ergo sum

Matta Wagnest wandelt den ersten Grundsatz der Erkenntnistheorie von René Descartes ab und nennt das anzustrebende Resultat »amo ergo sum« – »ich liebe, also bin ich«. Liebe führe zur Selbsterkenntnis und diese wiederum verleihe dem Menschen jene Autorität, die zum Regieren befuge. Politik, Wirtschaft und Handel legten ein anderes Verhalten an den Tag, wenn dieser Grundsatz als oberste Prämisse angesehen werden würde. 

»Das Leben ist immer durchwirkt von Schmerz, wenn es uns jedoch gelingt ihn in Liebe zu verwandeln, haben wir den Sinn des Lebens gefunden«, meint die Künstlerin.